didacta 2010 Themendienst: Die Schulsysteme in den einzelnen Bundesländern
04.02.2010
Mittelschule, Sekundarschule, Regelschule, Oberschule, Werkrealschule, Realschule, Realschule plus, Stadtteilschule, Gymnasium, Gesamtschule: In den sechzehn Bundesländern haben die Schulformen, die auf die Grundschule folgen, viele verschiedene Namen. Immer seltener aber taucht der Begriff Hauptschule auf. Wird das deutsche Schulsystem also nach und nach zweigliedrig?
"Wieder zweigliedrig" müsste man eigentlich sagen, denn die Zweigliedrigkeit ist kein neues Modell. Schließlich war das deutsche Schulsystem zweigliedrig, als es neben dem Gymnasium, der einstigen "Gelehrtenschule", nur die Volksschule kannte. Erst in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts gesellte sich die Realschule als "Mittelschule" dazu und in den 1960er Jahren wurde in sozialdemokratisch geführten Bundesländern die Gesamtschule eingeführt - als vierte Regelschule. Ein mindestens viergliedriges System also, rechnet man die Sonder- und Förderschulen nicht mit hinzu. Spätestens seit diesem Zeitpunkt wird in Deutschland ein heftiger Disput über das Für und Wider des gegliederten Schulsystems geführt. Während die einen argumentieren, das gegliederte Schulsystem erweise sich als Rutschbahn, auf der soziale Auslese 'nach unten' bestens funktioniere, kontern die anderen, es werde mit seiner Vielfalt den unterschiedlichen Begabungen, Talenten und Stärken der Schüler am besten gerecht. Und auch die Ergebnisse der PISA-Studien werden – je nach Lagerzugehörigkeit – als Argument für oder gegen das gegliederte Schulsystem verwendet und mit jedem neuen PISA-Bericht wieder aufgewärmt.
Dieser heftigen Diskussion wollte im November 2007 eine bemerkenswerte Allianz aus Forschern und Politikern von SPD, FDP und CDU ein Ende setzen und plädierte in einem gemeinsamen Aufruf in der ZEIT für ein zweigliedriges Schulsystem: Hauptschulen, Realschulen und Gesamtschulen sollten zu einer einheitlichen Schulform neben dem Gymnasium zusammengefasst werden. Zu den Unterzeichnern gehörten unter anderem die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Jutta Allmendinger, der langjährige Direktor der Internatsschule Schloss Salem Bernhard Bueb und der Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn. Außerdem unterschrieben der frühere Kultusminister Hessens, Ludwig von Friedeburg (SPD), der schulpolitische Sprecher der CDU-Bürgerschaftsfraktion in Hamburg, Robert Heinemann und die jetzige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Auch der Bielefelder Bildungsforscher Klaus Hurrelmann, (jetzt an der Hertie School of Governance, Berlin) gehörte zu den Unterzeichnern. Er hatte bereits 1991, also zwei Jahre nach der Wende, der KMK ein "Zweiwegemodell" empfohlen. Allerdings ohne Erfolg, ebenso wie ein zweiter Appell im Jahr 2006. "Keine Partei wird durch diesen Kompromiss ihren profilierenden Einfluss auf die Bildungspolitik verlieren. Die wirklichen Gewinner aber sind die heute benachteiligten Schülerinnen und Schüler", hieß es abschließend in dem ZEIT-Aufruf.
Wenn auch die politischen Lager sich von diesem Aufruf nicht unbedingt haben beeinflussen lassen: Die Schulstrukturen sind im Wandel. In der Mehrheit der Bundesländer gibt es mittlerweile keine Hauptschulen mehr. Nur fünf Bundesländer halten noch offiziell an der dreigliedrigen Struktur fest: Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Aber auch hier gerät die Hauptschule mehr und mehr ins Wanken. Nicht eines bildungspolitischen Umdenkens wegen, sondern vielmehr als notwendige Reaktion auf die demografische Entwicklung und auf die Tatsache, dass die Hauptschule von immer mehr Eltern als Restschule abgelehnt wird. Der Schule gehen schlichtweg die Schüler aus.
"Unter dem Druck des demografischen Wandels wird sich das deutsche Schulsystem in den kommenden 15 Jahren radikal verändern", hat erst kürzlich die Bertelsmann Stiftung prognostiziert. Demnach wird bis zum Jahr 2025 die Zahl der Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen 6 und 18 Jahren von knapp 11 Millionen um rund 2 Millionen auf künftig 9 Millionen zurückgehen. Besonders drastisch wird der Schwund mit 27,4 Prozent bei den 16- bis 18-jährigen Jugendlichen sein. Bei den Schülern zwischen 10 und 15 Jahren, deren Alter in den meisten Bundesländern der Sekundarstufe I entspricht, werden 15,8 Prozent der Kinder fehlen. Auch in der Primarstufe (6 bis 9 Jahre) werden mit 14,3 Prozent deutlich weniger Kinder als heute die Schulbank drücken.
Fazit der Untersuchung: "Durch den massiven Rückgang der Schülerzahlen dürfte vor allem das dreigliedrige Schulsystem weiter unter Druck geraten." Nach Einschätzung der Bertelsmann Stiftung wird sich der Trend hin zu neuen Schulformen und zum zweigliedrigen System mit zusammengelegter Haupt- und Re¬alschule fortsetzen. Während sich der Andrang auf die Gymnasien verstärken dürfte, sei die Hauptschule vom Aussterben bedroht.
Viele, viele Namen – Die Schulen in den 16 Bundesländern
Baden-Württemberg hält offiziell weiterhin an der Aufteilung Haupt-, Realschule und Gymnasium fest. Zum Schuljahr 2010/11 wird allerdings die neue Werkrealschule eingeführt, die sowohl zum Hauptschul-, wie zum Mittleren Abschluss führt. In 20 Modellversuchen werden außerdem Haupt- und Realschüler der Klassen fünf und sechs gemeinsam unterrichtet.
Bayern setzt ebenfalls weiterhin auf das gegliederte System. Allerdings sollen die Hauptschulen flächendeckend zu Mittelschulen mit drei berufsorientierenden Zweigen weiterentwickelt werden und neben dem Hauptschulabschluss einen Mittleren Bildungsabschluss anbieten.
Berlin wird zum Schuljahr 2010/11 Haupt-, Real- und Gesamtschulen abschaffen. Nach sechs Grundschuljahren wechseln die Kinder dann entweder auf das Gymnasium oder die neue Sekundarschule. In beiden Schularten sind alle Abschlüsse – einschließlich Abitur - möglich. Das Pilotprokekt Gemeinschaftsschule mit gemeinsamem und integrativem Lernen wird weitergeführt.
Brandenburg sieht nach der sechsjährigen Grundschule den Besuch des Gymnasiums, der Gesamtschule oder der Oberschule vor. Die Oberschule endet mit dem Hauptschul- bzw. dem Mittleren Abschluss, an Gesamtschulen kann auch das Abitur erreicht werden.
Bremens Bürgerschaft entschied sich im Juni 2009 mit den Stimmen der Regierungsparteien SPD und Grüne sowie der oppositionellen CDU für ein neues Schulsystem. Im Sekundarbereich wird es nur noch zwei Schularten geben: Die Oberschule und das Gymnasium. Die Oberschule ermöglicht das Abitur nach 13 Jahren, das Gymnasium nach 12 Jahren. Die Schüler der Oberschulen lernen gemeinsam bis zur 10. Klasse. Neun Schulen haben bereits mit der Umwandlung begonnen. Alle anderen starten ab 2011/2012. Die Grundschule dauert vier Jahre.
Hamburgs Schulsystem wird ab August 2010 zweigliedrig, sofern die für Sommer 2010 geplante Volksabstimmung dem Ganzen nicht einen Strich durch die Rechnung macht. Geplant ist nach der sechsjährigen Primarschule der Wechsel auf die Stadtteilschule oder das Gymnasium. In beiden Schularten sollen alle Abschlüsse – einschließlich Abitur –möglich sein.
Hessen hält an dem mehrgliedrigen Schulsystem – einschließlich Gesamtschule - fest. Schulen mit den Bildungsgängen Haupt- und Realschulen soll allerdings die innere Unterrichtsorganisation freigestellt werden. Die Schulen können dann selbst entscheiden, ob sie gemeinsame oder getrennte fünfte Klassen bilden. Es bleibt aber bei den nach Haupt- oder Realschule getrennten Abschlüssen.
Mecklenburg-Vorpommern setzt auf Zweigliedrigkeit: Nach der vierjährigen Grundschule folgt eine zweijährige schulartunabhängige Orientierungsstufe. Daran schließt sich entweder der Besuch der Regionalen Schulen mit einem Mittleren Abschluss oder des Gymnasiums mit dem Abitur an.
Niedersachsen hält am dreigliedrigen Schulsystem fest und hat in den Hauptschulen den Schwerpunkt auf die Berufsorientierung gelegt. Allerdings wurden in den vergangenen Jahren an rund 200 Standorten Haupt- und Realschulen mit einer einheitlichen Leitung zusammengefasst. Dort findet mit Ausnahme der Kernfächer Deutsch, Mathematik und Englisch gemeinsamer Unterricht in allen anderen Fächern statt. An den Gesamtschulen soll künftig die Abiturprüfung bereits nach 12 Jahren abgelegt werden.
Nordrhein-Westfalen setzt weiterhin auf das dreigliedrige Schulsystem plus Gesamtschule. Ländliche Gemeinden können allerdings Haupt- und Realschulen unter einem Dach zu einer Verbundschule zusammenlegen. Es müssen aber getrennte Schulformen bleiben.
Rheinland-Pfalz hat zum Schuljahr 2009/10 mit der Umstellung auf ein neues Schulsystem begonnen. Die Hauptschulen werden mit den Realschulen zusammengeführt. In der neuen Realschule plus gibt es im fünften und sechsten Jahrgang eine Orientierungsstufe. Erhalten bleiben Gymnasium und Gesamtschule.
Saarlands Hauptschulen wurden schon Mitte der 90er Jahre abgeschafft: Hauptschule und Realschule wurden zur Erweiterten Realschule zusammengelegt. Daneben gibt es Gesamtschulen und Gymnasien. CDU, FDP und Bündnis90/Die Grünen haben sich in ihrem Koalitionsvertrag im November auf eine Verlängerung der Grundschulzeit um ein Jahr geeinigt. Diese beginnt erstmals mit dem Schuljahr 2011/2012.
Sachsen hat ein zweigliedriges System: Nach der vierten Grundschulklasse folgt die Mittelschule oder das Gymnasium. Die Mittelschule bietet nach der 9. Klasse den Hauptschul- und nach der 10. Klasse den Realschulabschluss an. CDU und FDP wollen die Mittelschule zur Oberschule weiterentwickeln. Außerdem soll nach der sechsten Klasse der Übergang zum Gymnasium möglich sein. Darauf haben sich die Regierungsparteien in ihrem Koalitionsvertrag im September 2009 geeinigt. Sie streben eine stufenweise Einführung ab dem Schuljahr 2011/2012 an. Die bisher genehmigten Schulversuche zur Gemeinschaftsschule werden abgeschlossen und evaluiert.
Sachsen-Anhalt bietet verschiedene Optionen: Auf das vierte Grundschuljahr folgt das Gymnasium, die Gesamtschule oder die Sekundarschule, die mit der siebten Klasse die Kinder Haupt- und Realschulklassen zuweist. Die Gesamtschulen führen nach 12 oder 13 Jahren zum Abitur.
Schleswig-Holstein wollte ursprünglich die alten Haupt-, Real- und Gesamtschulen bis zum Schuljahr 2010/11 durch die neuen Schularten Gemeinschaftsschule und Regionalschule ablösen. Am 27. Januar hat allerdings der Landtag mit den Stimmen von CDU/FDP eine Fristverlängerung bis zum Schuljahr 2011/12 beschlossen. Das Gymnasium bleibt bestehen. An der Regionalschule kann der Hauptschulabschluss oder der Mittlere Abschluss erworben werden. In den Gemeinschaftsschulen lernen die Schüler gemeinsam bis zum 10. Jahrgang. Angestrebt ist laut Koalitionsvertrag von CDU und FDP vom Oktober 2009 eine spätere Zusammenlegung in einer Schulart Regional- und Gemeinschaftsschule. Dort soll der Unterricht getrennt nach den Bildungsgängen Haupt- und Realschule oder in einem gemeinsamen Klassenverband erfolgen. Außerdem läuft in Schleswig-Holstein bis Ende Januar 2010 noch ein Volksbegehren zum Erhalt der Realschule, das von der FDP unterstützt wird.
Thüringen trennt die Schüler nach Klasse 4 in Gymnasiasten und Regelschüler. Die Regelschule endet mit dem Hauptschul- bzw. dem Mittleren Abschluss. Im Koalitionsvertrag haben sich SPD und CD im Oktober 2009 darauf verständigt, das Thüringer Schulsystem für längeres gemeinsames Lernen bis Klasse 8 zu öffnen. Dazu sollen alle Schulträger neben der Regelschule und dem Gymnasium eine gleichberechtigte Option für eine Gemeinschaftsschule bekommen.